Tag der Arbeit: Behinderung und Scham
Beratung & Soziales
Wenn wir über Arbeitsinklusion reden, müssen wir auch über Scham reden. Warum viele Menschen ihre Sehbehinderung am Arbeitsplatz verschweigen und damit ihren Job riskieren.
Wir müssen reden, und zwar über Scham. Für ein bisschen mehr Sichtbarkeit für die vielschichtigen Herausforderungen behinderter Menschen in punkto Arbeit. Weil heute 1. Mai ist und weil sich an der prekären Situation von Menschen mit Seheinschränkungen am Arbeitsmarkt was ändern muss. Laut European Blind Union sind 75 % der blinden und sehschwachen Menschen in der EU nämlich arbeitslos. Für die hohe Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Behinderungen gibt es eine Vielzahl an strukturellen Gründen. Dazu zählen etwa mangelnde staatliche Unterstützungs- und Fördermaßnahmen für Menschen mit Behinderungen zur nachhaltigen Inklusion am Arbeitsmarkt, verfrühte Feststellungsbescheide zum Status der Arbeitsunfähigkeit, ein stigmabehaftetes Bild von Behinderung bei den Arbeitgebern genauso wie in der Politik rund um das Thema Arbeit und der beschränkte Zugang zu gleichwertiger, inklusiver Bildung insbesondere im Hochschulbereich.
Sehbehinderungen sind oft unsichtbare Behinderungen
Sehbehinderungen und Blindheit sind für andere Menschen im Umfeld oft nicht sichtbar. Erst wenn sich Betroffene für Hilfsmittel wie den Langstock oder Blindenführhund bzw für eine Kennzeichnung entscheiden, wird ihre Behinderung für ihr Umfeld sichtbar. Manche Mitglieder von uns, gerade jene, die im Laufe ihres Lebens erblinden bezeichnen das in ihren Erzählungen oft sogar als „Outing“, wenn sie ihre Behinderung erstmals sichtbar nach außen tragen. Für manche ist es ein langer Prozess, ihre Seheinschränkung anzunehmen.
Verschweigen der Sehbehinderung am Arbeitsplatz
Christiane Hauck, Leiterin der Beratung in der Hilfsgemeinschaft, erzählt, dass viele Betroffene ihre zunehmende Seheinschränkung erstmal nicht wahrhaben möchten und trotz zunehmender Herausforderungen Hilfsmittel verweigern und so weitermachen wie bisher. Das betrifft natürlich auch den Arbeitsplatz. Manche Betroffene verschweigen ihre Sehbehinderung so lange bis es nicht mehr geht. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die Betroffenen haben Angst, gekündigt zu werden, weil der Arbeitgeber ihnen keine Leistungsfähigkeit mehr zutrauen könnte. Viele wissen auch nicht, welche Hilfsmittel und Unterstützungsmöglichkeiten, zB Persönliche Assistenz, es für blinde und sehbehinderte Menschen in Österreich gibt. Und mit der Sichtbarmachung der Behinderung, etwa durch die Nutzung eines weißen Stocks oder durch Kennzeichnung, kann man auch zur Zielscheibe von Mobbing oder anderen Formen von Gewalt werden. Hiervon sind Menschen mit Behinderungen nachweislich stärker betroffen, auch am Arbeitsplatz.
Internalisierte Behindertenfeindlichkeit als eine Ursache
Auch internalisierter Ableismus (= Form der Diskriminierung, basierend auf der Annahme, dass Menschen mit Behinderungen weniger Fähigkeiten haben und weniger Wert sind) muss hier erwähnt werden. Wer in einer Gesellschaft aufwächst, die Menschen mit Behinderungen sowohl medial, als auch politisch als bedürftige, hilflose und unselbstständige Bittsteller darstellt und gelernt hat, Behinderung mit Mangel zu assoziieren, möchte vielleicht auch selbst nicht zu dieser Gruppe zählen. Hauck erzählt, dass die fortschreitende Sehbehinderung für die Betroffenen zunächst oft mit Scham behaftet ist. Viele verweigern aus bereits genannten Gründen Unterstützungsleistungen und können so ihre üblichen Aufgaben in der Arbeit teils nur mit höchster Anstrengung ausführen. Dadurch haben Betroffene keinen Anspruch auf Hilfsmittel, Fehler können auftreten und so riskieren viele durch das Verschweigen ihres Behinderungsgrades obendrein eine Kündigung.
Beratung und Sensibilisierung für Inklusion am Arbeitsmarkt
Wir versuchen Betroffenen aufzuzeigen, dass man mit Sehbehinderungen und Blindheit sehr wohl arbeiten kann und dass es verschiedenste staatliche Fördermaßnahmen und Finanzierungsmöglichkeiten für Hilfsmittel am Arbeitsplatz gibt. Betroffene, die sich an uns wenden, werden dabei auch psychologisch abgeholt, etwa durch Peer-Beratung, also die Beratung durch selbstbetroffene Beraterinnen. Zudem arbeiten wir mit unseren Sensibilisierungsschulungen in Unternehmen und Institutionen daran, das Bild von Behinderung bei den Angestellten und auch in der Führungsebene zu ändern. Hier fehlt es noch immer an Wissen über die vorhandenen staatlichen Förderungen sowie am Bewusstsein darüber, dass Menschen mit Behinderung nicht automatisch weniger leisten. Niemand soll mehr Scham empfinden müssen. Nicht die Behinderung ist das Problem, sondern Barrieren und ein problematisches Bild von Behinderung in unserer Gesellschaft.