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Behinderteneinstellungsgesetz - Interview mit Herausgeber:innen

Beratung & Soziales

Anlässlich des Erscheinens der 9. Auflage des Behinderteneinstellungsgesetzes hat der ÖGB Verlag bei den Herausgeber:innen unter anderem nachgefragt, welche wesentlichen arbeitsrechtlichen Änderungen es in diesem Bereich in den letzten Jahren gegeben hat, was aus arbeitsrechtlicher Sicht unter eine „Behinderung“ fällt, welche Rechtsfolgen eine gesetzeswidrige Diskriminierung nach sich ziehen kann und welche Verbesserungen sie sich vom Gesetzgeber zukünftig wünschen würden.

Ihr aktualisierter Kommentar zum Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) ist in der 9. Auflage erschienen. Es ist ein sehr umfangreicher Kommentar, inwiefern ist er für Betroffene und Praktiker:innen ein wichtiges Nachschlagewerk?

Günther Widy: Der vorliegende Kommentar ist das umfangreichste Werk zum Behinderteneinstellungsgesetz und den Materien, die davon tangiert werden. Das gründet auch darauf, dass dieser über Jahrzehnte hinweg immer wieder bearbeitet, aktualisiert und weiterentwickelt wurde. Dadurch finden sich auch neben der klassischen Kommentierung der einzelnen Paragraphen historische Abrisse von der beruflichen Rehabilitation hin zur beruflichen Inklusion von Menschen mit Behinderung und etwa die Chronologie sämtlicher Novellierungen seit dem Invalidenbeschäftigungsgesetz 1920 mit der geschichtlichen Entwicklung der jeweiligen Paragraphen.

Glücklicherweise konnte ich zur Bearbeitung im Rahmen der 8. Auflage zwei ausgewiesene Expertinnen, meine Co-Autorinnen Susanne Auer-Mayer und Birgit Schrattbauer, gewinnen, die auch bei der neuen Auflage im Autor:innenteam dabeigeblieben sind. Mit dieser Mischung von Autor:innen aus Wissenschaft, Lehre und Praxis wollen wir auch einen umfassenden Blick auf die einzelnen Bestimmungen des Behinderteneinstellungsgesetzes gewährleisten.

Was ist das Ziel des Behinderteneinstellungsgesetzes?

Susanne Auer-Mayer: Aus sozialpolitischer Sicht ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt essentiell. Österreich hat sich auch durch Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die gleichberechtigte Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu gewährleisten. Der Realisierung der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderungen dient eine Reihe von Sonderbestimmungen, deren „Herzstück“ stellt aber zweifellos das BEinstG dar. Es zielt vor allem darauf ab, die Einstellung von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihre diskriminierungsfreie Beschäftigung sicherzustellen.

Seit der letzten Auflage im Jahr 2015 gab es mehrere Novellierungen und Weiterentwicklungen die Rechtsprechung betreffend. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichsten arbeitsrechtlichen Änderungen?

Birgit Schrattbauer: Was arbeitsrechtlich bedeutsame gesetzliche Änderungen seit der letzten Auflage betrifft, so ist etwa die Verlängerung der Funktionsperiode der Behindertenvertrauensperson von vier auf fünf Jahre zu erwähnen. Außerdem waren ua Anpassungen aufgrund des zwischenzeitigen Inkrafttretens der DSGVO sowie im Zusammenhang mit der Änderung der Kompetenzbestimmungen im Bereich des Landarbeiterrechts erforderlich. Da die Gesetzgebung für das Arbeiterrecht sowie für den Arbeiter- und Angestelltenschutz in der Land- und Forstwirtschaft seit 1.1.2020 generell in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt, finden nun die diskriminierungsrechtlichen Regelungen des BEinstG grundsätzlich auch auf land- und forstwirtschaftliche Dienstverhältnisse Anwendung.

Im Bereich der Rechtsprechung ist insb ein Urteil des OGH (9 ObA 3/17g) hervorzuheben, in dem sich dieser mit der in der Literatur zuvor nicht ganz unumstrittenen Frage des Verhältnisses zwischen dem Kündigungsschutz des BEinstG und den Bestandsschutzregelungen in anderen Gesetzen – konkret ging es um ein Zusammentreffen mit dem Kündigungsschutz des Vertragsbedienstetengesetzes (VBG) – auseinanderzusetzen hatte. Der OGH hat sich dabei der auch in diesem Kommentar vertretenen Meinung angeschlossen, dass der Kündigungsschutz des BEinstG nicht zu einem Entfall der Kündigungsschutzregelungen des VBG führt, sondern die Bestandschutzregelungen des VBG vielmehr zusätzlich zu jenen des BEinstG gelten und deshalb vom Arbeits- und Sozialgericht auch eigenständig geprüft werden müssen. Es kann somit auch eine mit Zustimmung des Behindertenausschusses ausgesprochene Kündigung unter Berufung auf die besonderen Bestandschutzbestimmungen eines anderen Gesetzes erfolgreich bekämpft werden. Lediglich eine Anfechtung nach den allgemeinen Kündigungsschutzregelungen des § 105 ArbVG kommt nicht in Betracht – deren parallele Anwendung zum besonderen Kündigungsschutz des § 8 BEinstG wird nämlich im Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen.

Wir haben nun schon thematisiert, was das BEinstG regelt und für wen es gilt, doch was fällt laut österreichischem Arbeitsrecht konkret unter den Begriff „Behinderung“? Welche Krankheiten werden als Behinderung anerkannt?

Susanne Auer-Mayer: § 3 BEinstG definiert als „Behinderung“ die „Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren“. Als „nicht nur vorübergehend“ gilt hierbei ein „Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten“. Die „Behinderung“ ergibt sich demnach aus drei Elementen: einer Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen, der Auswirkung dieser Beeinträchtigung und der Eignung, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Die Behinderung wird nicht in der – nicht nur vorübergehenden – (medizinischen) Funktionsbeeinträchtigung an sich, sondern in deren Auswirkung erblickt. Auch diverse Krankheiten können somit eine Behinderung zur Folge haben, wenn sie entsprechend langfristig sind. Das haben inzwischen auch der EuGH und der OGH klargestellt.

Im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention ist zudem ein soziales Verständnis der Behinderung zugrunde zu legen. Damit sind als Auswirkungen, die geeignet sind, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren, auch sozial konstruierte Beeinträchtigungen, va solche durch verschiedene Barrieren, zu berücksichtigen. Auch eine noch nicht virulente Multiple Sklerose oder eine HIV-Infektion ohne Merkmale von AIDS kann daher angesichts des nach wie vor bestehenden Stigmatisierungspotenzials eine Behinderung iSd Gesetzes zur Folge haben.

Zu beachten ist allerdings, dass das Vorliegen einer Behinderung im genannten Sinn nur für den Diskriminierungsschutz, nicht aber für die im BEinstG vorgesehene Beschäftigungspflicht und den besonderen Kündigungsschutz ausreichend ist. Letztgenannte Vorgaben gelten nur für „begünstigte Behinderte“. Das sind Personen, deren Behinderungsgrad von mind 50 % bescheidmäßig festgestellt wurde. Die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) wird durch das Sozialministeriumservice nach Maßgabe der sogenannten Einschätzungsverordnung vorgenommen.

Immer wieder kommt es vor, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt werden, auch in der Arbeitswelt. Dabei ist eine Benachteiligung von Arbeitnehmer:innen gesetzlich verboten. Welche Rechtsfolgen kann eine gesetzeswidrige Diskriminierung laut BEinstG nach sich ziehen?

Susanne Auer-Mayer: Das kommt darauf an, welche konkrete Diskriminierung sich ereignet hat. In aller Regel können Betroffene Schadenersatzansprüche geltend machen, also sowohl den Ersatz des eingetretenen Vermögensschadens als auch einen Ersatz für die „erlittene persönliche Beeinträchtigung“, also den immateriellen Schaden, verlangen. Hätte eine im Bewerbungsverfahren diskriminierte Person die Stelle bei diskriminierungsfreier Vorgangsweise erhalten, beträgt der Schadenersatz mindestens zwei Monatsentgelte. Auch bei Belästigung von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt stehen mind 1000 Euro Schadenersatz zu.

Alternativ kann etwa eine diskriminierende Beendigung angefochten oder die Einbeziehung in eine Weiterbildungsmaßnahme verlangt werden, von der man diskriminierend ausgeschlossen wurde. Im Rahmen des Zumutbaren müssen AG auch diskriminierende bauliche Barrieren beseitigen und aktiv Maßnahmen setzen, um Menschen mit Behinderung die diskriminierungsfreie Ausübung der Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.

An wen können sich von Diskriminierung Betroffene wenden?

Birgit Schrattbauer: Es gibt mehrere Stellen, die hier Beratung und Unterstützung anbieten. Personen, die von einer Diskriminierung wegen einer Behinderung betroffen sind, können natürlich die Beratungsangebote von Arbeiterkammer bzw Gewerkschaft in Anspruch nehmen oder sich mit ihrem Problem an die zuständige Landesstelle des Sozialministeriumservice wenden. Vor allem aber setzt sich die Behindertenanwaltschaft mit Gleichbehandlungsfragen von Menschen mit Behinderungen auseinander. Eine Kontaktaufnahme ist ganz unbürokratisch zB per Post, Telefon oder E-Mail möglich. Die Behindertenanwaltschaft kann auf Wunsch auch an einem Schlichtungsverfahren teilnehmen und die von der Diskriminierung betroffene Person in diesem Verfahren unterstützen.

Welche Herausforderungen sehen Sie zukünftig im BEinstG und welche Anpassungen bzw Verbesserungen würden Sie sich vom Gesetzgeber wünschen?

Susanne Auer-Mayer: Ich fände die Schaffung einer Verbandsklagemöglichkeit der Behindertenanwaltschaft im Anwendungsbereich des BEinstG sinnvoll. Diese würde es ermöglichen, losgelöst von der Geltendmachung durch konkret betroffene Personen gegen Diskriminierungen, etwa durch bauliche Barrieren oder auch durch öffentliche Äußerungen, vorzugehen und so effizienter auf eine tatsächliche Gleichstellung hinzuwirken.

Birgit Schrattbauer: Verbesserungsbedarf gäbe es auch bei den im Detail sehr komplizierten Regelungen zum Inkrafttreten des besonderen Kündigungsschutzes für begünstigte Behinderte. Die Wartezeit wurde vor mehr als zehn Jahren von sechs Monaten auf vier Jahre erhöht; die Erwartungen, dadurch mehr Arbeitgeber:innen zur Einstellung von Menschen mit Behinderung zu motivieren, haben sich nicht erfüllt. Dazu kommt, dass der Kündigungsschutz nach wie vor bereits nach sechsmonatiger Betriebszugehörigkeit in Kraft tritt, wenn der Begünstigtenstatus erst im laufenden Arbeitsverhältnis beantragt wird, bzw sofort, wenn die Behinderung Folge eines Arbeitsunfalles ist. Die Lage ist also für Arbeitgeber:innen nicht gerade übersichtlich. Außerdem werfen die derzeitigen Regelungen auch in Zusammenhang mit der vom VwGH bestätigten Möglichkeit eines Verzichts auf den Begünstigtenstatus trotz unverändert vorliegender Behinderung schwierige Fragen auf: Ist es etwa zulässig, bei Arbeitslosigkeit auf die Begünstigung zu verzichten und diese erst wieder zu beantragen, wenn ein neuer Arbeitsplatz gefunden ist? – Die Notwendigkeit des Erhalts des besonderen Kündigungsschutzes sollte aber mit Blick auf die besonders schwierige Situation von arbeitslosen Menschen mit Behinderung jedenfalls außer Zweifel stehen.

Günther Widy: Die Regelungen zur nachträglichen Zustimmung zu einer bereits ausgesprochenen Kündigung sind aus meiner Sicht überarbeitungsbedürftig und sollten in einer klareren Bestimmung geregelt werden. Seit Jahren wird auch das System der Ausgleichstaxe in Verbindung mit den Kündigungsschutzbestimmungen diskutiert. Die Evaluierung der Auswirkungen der letzten großen Novellierung in diesen Bereichen hat keine signifikanten Änderungen in der Aufnahmebereitschaft der Unternehmen gezeigt.